Nicht nur Nawalny bezeichnete den bewaffneten Konflikt um die Ukraine als einen Wertekonflikt. Die anhaltende Gewalttätigkeit zeigt aber, dass dieser Krieg weit mehr als ein ideeller, von der Realität abgehobener Wertekonflikt ist. Aber was ist ein Wertekonflikt? Was unterscheidet ihn von anderen Konflikten?
Der Soziologe Vilhelm Aubert traf ab den 1960-ern die klassische Unterscheidung zwischen konvergierenden und divergierenden Auseinandersetzungen unter Akteuren. Obwohl er die beiden grundlegenden Konfliktarten, in zwei Aufsatzsammlungen (The Hidden Society, Totowa, 1965 und in Continuity and Development In Law and Society, Oxford, 1989) jeweils nur streift, sind sie für die Thematik der Wertekonflikte, entscheidend, weil sie die beiden grundlegenden Konflikttendenzen ansprechen.
Der Soziologe Vilhelm Aubert traf ab den 1960-ern die klassische Unterscheidung zwischen konvergierenden und divergierenden Auseinandersetzungen unter Akteuren. Obwohl er die beiden grundlegenden Konfliktarten, in zwei Aufsatzsammlungen (The Hidden Society, Totowa, 1965 und in Continuity and Development In Law and Society, Oxford, 1989) jeweils nur streift, sind sie für die Thematik der Wertekonflikte, entscheidend, weil sie die beiden grundlegenden Konflikttendenzen ansprechen.
Der konvergierende Konflikt (1965, S. 89 ff. und 1989, S. 96 ff.) wäre seiner Definition zufolge, ein Interessenkonflikt bei dem zwei oder mehrere Konfliktpartner um eine knappe Ressource konkurrieren. In diesem Fall sind die Konkurrenten zwar auf einer Wellenlänge bezüglich des Ziels oder eben des Wertes ihrer Ambition. Sie befinden sich aber gerade darüber im Widerstreit wer über die knappe Ressource verfügen kann.
Alle Formen der Konkurrenz von Unternehmen um einen potentiellen Kunden oder Mitarbeiter fallen unter dieses konvergierende Konfliktmuster. Die Mechanismen des Marktes regelten solche Auseinandersetzungen in der Regel, mit Preis und Nachfrage, gewaltlos.
Der divergierende Konflikt ist dagegen, Aubert zufolge, ein Wertekonflikt. Er trennt die Kontrahenten. Sie verfolgen unterschiedliche Werte oder Ziele und im Extremfall begegnen sie sich nicht einmal. Sie haben kein gemeinsames Schlachtfeld, weil das divergierende Mindset bewirkt, dass sie getrennte Wege gehen. Dieser Begriff des Wertekonflikts ist in sich widersprüchlich. Weil einerseits conflictuslateinisch Zusammenprall bedeutet und andererseits zwischen den Konfliktpartnern buchstäblich Welten stehen, würde die Zentrifugalkraft der Werte dafür sorgen, dass sie auseinanderstreben und nicht kon-fligieren, also gerade nicht zusammenstoßen. Aubert spricht diesen inneren, essentiellen, Widerspruch nur höchst beiläufig an, da sein Interesse eher dem rechtssoziologischen Bereich gilt. Dennoch erwähnt er zwei überaus wichtige Ansatzpunkte für Konfliktanalysen, Konfliktsteuerung und Lösungsstrategien:
- beide Konfliktformen kommen kaum je rein vor
- jeder Konflikt durchläuft verschiedene Stadien, in denen er sich und seine Motive transformiert
Auch für den divergierenden Konflikt existiert ein marktwirtschaftliches Muster, die USP, die Unique Selling Proposition, mit der sich jeder Bewerber von den Mitbewerbern unterscheidet d.h. sein Profil und seine Marke, seine Kultur und sein Wertekonzept, also sein Alleinstellungsmerkmal ausbildet und Marktführerschaft auf seinem Gebiet anstrebt. Es ist diese Entfaltung der Möglichkeiten mit Hilfe von Werten, dieser Wettstreit um die besten Ideen und Positionen, die den kreativen Kern des demokratischen Wirtschaftsmodells ausmachen.
Unabhängig von Auberts Ausführungen existiert der Begriff Wertekonflikt im allgemeinen Sprachgebrauch. Deshalb hat auch jeder das Recht ihn zu gebrauchen. Oft benutzt ihn der Sprecher allerdings um eine quasi unüberwindliche Barriere aufzubauen oder etwas Nebulöses, das nicht durchschaubar ist heraufzubeschwören. Nicht selten dient der Begriff Wertekonflikt dazu ein fortgesetztes Nichtstun zu rechtfertigen. Er muss dann dafür herhalten einen Status Quo aufrecht zu erhalten oder auch um Versäumtes im Nachhinein zu rechtfertigen. Entscheider im M&A- Bereich schreiben regelmäßig gescheiterte Firmenehen der unpassenden Firmenkultur und den unvereinbaren Werten der Partner zu. Mehr als 90 % versäumen es dennoch im Vorfeld die mit gebührender Sorgfalt durchzuführende Prüfung der kulturellen Kompatibilität der beteiligen Partner durchzuführen. Warum schrecken sie davor zurück die kulturellen Risiken und die daran geknüpften Herausforderungen transparent zu machen? Gibt es ein stilles Einverständnis das Wertethema im M&A-Kontext vor allem als Joker für gescheiterte Transaktionen zu nutzen?
Doch zurück zu Putin und dem Ukrainekrieg. Es gibt in jedem Wertekonflikt, der zwischen zwei oder mehreren Konfliktpartnern entsteht, ein einigendes Moment, das zumindest unterschwellig mitspielt. Die Divergenz bildet sich innerhalb einer Einheit aus. Eine klassische Formel dazu lautet die Zweiheit in der Einheit oder die Vielheit in der Einheit.
Für Putin besteht dies einigende Moment in der Weltpolitik. Die fortgesetzte Rede, die von westlichen Politikern und westlichen Medien geführt wurde benutzte im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg allerdings den Begriff Diplomatie. Ständig war die Rede davon, man wolle eine diplomatische Lösung des Ukrainekonfliktes herbeiführen. Mit dem Begriff, Diplomatie, wurde dieses einigende Moment und dieser gemeinsame Rahmen heruntergespielt. Es wurde gewissermaßen der Versuch unternommen Putins Anliegen zu verzwergen. Auch seine Gebietsansprüche wurden über Jahre hinweg vom Westen kleingeredet. Doch der diplomatische Bezugsrahmen, von dem alle westlichen Politiker und Medien sprachen, ist nicht die Dimension in der Putin denkt. Putin lässt sich nicht auf den Status des kleinen Diplomaten aus den hinteren Reihen reduzieren. Er ist Politiker.
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